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Medizinanthropologie

Was ist Medizinanthropologie?

Medical Anthropology ist ca. seit den 1970ern ein international verwendeter Begriff, den wir im deutschsprachigen Raum auch unter den Begriffen "Ethnomedizin", "Medizinethnologie" (vorwiegend in der CH-Zürich, Basel), "Medizinische Anthropologie" oder "Medizinanthropologie" kennen.

Dieser Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie beschäftigt sich auf sehr heterogene Weise mit den verschiedensten Themenbereichen von Gesundheit und Krankheit.

Dabei sind es nicht nur die Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen und -bewertungen wie auch -bedeutungen einer Gesellschaft und damit verbundene Heil- und Behandlungsmethoden, von den Schulmedizinen (=Schrifttraditionen wie Biomedizin, Chinesische und Tibetische Medizin, Ayurveda, Arabische Medizin, Aztekische Medizin) bis hin zu Voodoo, schamanischen und anderen Medizinsystemen.

Sondern auch die Wechselwirkung zwischen Krankheitskonzepten und Behandlung, zwischen sozialem, kulturellem und medizinischem System, Verständnis von Körper-Geist-Seele Konstruktionen uvm.. Das Kranksein sickness wird sowohl als illness, als eine individuelle Erfahrung und psychosoziale Reaktion in einen sozialen, kulturellen, politischen wie auch ökonomischen gesellschaftlichen Kontext gebettet verstanden, und disease, die Krankheit als der pathologische Zustand von Organen und Organsystemen (siehe Kleinman u.w.).

Das heißt medical anthropology beschäftigt sich auf primär qualitativer Forschungsebene mit den Phänomenen Leiden, Kranksein, Gesundheit, Heilen und Körper in ihren soziokulturellen Dimensionen und Kontexten in verschiedenen Gesellschaften, auch in der lokalen Gesellschaft. Arthur Kleinman (Harvard) und Nancy Sheper-Hughes (Berkley) sind zwei der einflussreichsten ForscherInnen auf diesem Gebiet von Beginn an. 

Fragen dazu sind u.a.:

  • Wann, was und wie wird (als) eine Erkrankung von wem definiert? Was ist ein Problem und wann wird etwas zu einem Problem? (z.B. Umwelt, Kosmos, Hexerei, Benennung, Bedeutung, Symptome, ...)

  • Wie werden körperliche Befindlichkeiten wahrgenommen und wann und von wem werden sie wie als Erkrankung definiert?  Wie und wann wird ein Leiden zu einer Erkrankung?

  • Was sind die Gründe der Erkrankung oder Gesundung, wodurch entsteht sie? (z.B. Stress, Lebensstil, Genetik, Gottes Strafe, böser Blick, Geister, Dämonen, ...)

  • Wie kann über Erkrankung kommuniziert werden, was darf und was darf man nicht kommunizieren? (z.B. Ausdruck der Erkrankung, Öffentlichkeit, Rückzug, ...)

  • Wie wird mit den Erkrankungen und dem/der Erkrankten umgegangen, wann gilt eine Erkrankung als geheilt? (z.B. Methoden, Medikation, Rituale, Seancen, ...)

  • Welche persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen haben bestimmte Krankheiten?

  • Wer wird wie zum Heilkundigen?

  • Wie konstituiert und strukturiert sich das health care system einer Gesellschaft? (siehe dazu auch Kleinman's Einteilung in popular sector, folk sector, professional sector)

Diese und ähnliche Fragen können kulturvergleichend, auf mikro- und makrosozialer Ebene, immer auch aus der Perspektive der Betroffenen (emischer Blick) erhoben werden, um zu verstehen und um diese in einen fachlichen, interdisziplinären aber auch globalen und selbst-/reflexiven Diskurs setzen zu können. 

Beispiele von Arbeiten aus dem Bereich der medical anthropology in Österreich:

 

2010.

Zwischen Leid und Dankbarkeit – eine anthropologische Studie zu den alltäglichen Krankheitserfahrungen von DialysepatientInnen in zwei österreichischen Krankenhäusern,

Ingrid Klejna, Wien Link

2008.

Medizinische und kulturelle Perspektiven von SchmerzJohanna Lalouschek, Wien (keine Arbeit der medical anthropology im strengen Sinne, trotzdem interessant) Link

2010.

Schlüsselmomente auf dem Weg zur Gesundheit. Ein Aktionsforschungsprojekt: die Analyse der Verwendung von zwei Therapiesystemen aus verschiedenen Welten bei der Erkrankung Krebs, Birgit Leitner, Wien Link


2009.

Interkulturelle Kompetenz in der Arztpatienten-Interaktion, Andreas Bliem, Wien Link

2009.

Omusawo: Vorstellungen und Einstellungen des biomedizinischen Personals in Uganda, Daniela Elisabeth Rieder, Wien Link

2008.

„Aspekte des Medizinpluralismus“ über die Geschichte der Untersuchung von Medizinen im Laufe des 20. Jhdts., mit der Betrachtung der gegenwärtigen medizinischen Gegebenheiten in Mexiko als regionales Beispiel, Daniela Agnes Fuchs, Wien Link

2008.

Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Gesundheit und Krankheit - ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit?  Link

Beispiele von Arbeiten aus dem Bereich der medical anthropology global:

 

2001.

Gesundheit und Krankheit im Urubamba-Tal, Peru: die emische Kategorisierung von Krankheit als Determinante der Heilerwahl und Vermittler zwischen traditioneller und Biomedizin, Doreen Montag, Hamburg Link

Allgemeine Arbeiten:

2010.

Früherkennung von Brustkrebs. Diskurse in Brasilien und Österreich. Ein Beitrag zur Gesundheitsanthropologie, Margret Jäger Link

Eigene Arbeiten:

2004.

Bedeutung von Halluzinogenen für die "westliche" Psychotherapie Link

2005.

"Irresein" in China. Diagnose aus transkultureller Sicht. Link

2019.

Selbstfürsorge im Feld. Überlegungen aus existenzanalytischer Perspektive.

In Luger, Martin; Graf, Franz & Philipp Budka (Hg). Ritualisierung - Mediatisierung - Performance. 1. Auflage (2019): 29-54, V&R Unipress. Link zum Verlag

Link zum Buch

Teilbereich: Transkulturelle Psychiatrie & Psychotherapie

Erste Berichte über psychische Erkrankungen in Verbindung mit Kultur stammen von Reisenden und Historikern (z.B. 14 Jhd. arabische Historiker Ibn Khaldun über psychosoziale Veränderungen von kriegerischen arabischen Stämmen, die vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit wechselten, oder 1430 n.Chr. Nicolo Conti - er beschreibt das erste Cultural Bound Syndrom in Java: amok).

Erst 1904 kam es durch die Aufenthalte des deutschen Psychiaters Emil Kraepelin in Java und Singapur zur Etablierung der transkulturellen Psychiatrie.

In seinen Forschungen beschäftigte er sich mit dem systematischen Vergleich zwischen den Erscheinungsformen psychischer Krankheiten in unterschiedlichen europäischen Ländern und inwieweit diese mit jenen in Java und Singapur differieren.

Sein damaliger Schwerpunkt war die Schizophrenie. Sein Werk war so bedeutend, dass seine psychopathologischen Kriterien noch heute Grundlage des ICD (International Classification of Diseases) und des DSM (Diagnostical Statistical Manual) sind.

 

Eine Grundfrage der Transkulturellen Psychiatrie ist: Kommen psychische Erkrankungen auf der ganzen Welt auf eine mehr oder weniger identische Weise vor oder unterscheiden sie sich in den verschiedenen Kulturen?

Laut Kleinman & Cohen (1997: 77) und der gegenwärtig dominierenden Meinung ist es so, dass psychische Erkrankungen so wie in der westlichen Psychiatrie klassifiziert im Wesentlichen universell sind. Nur die Pathoplastik, die äußere Form der Erkrankungen, unterscheidet sich kulturell. Je gravierender die psychische Störung, desto mehr universelle Merkmale zeigen sich.

Dem widersprechend, sieht u.a. Frank Kortmann (1989), niederländischer Psychiater in der Tradition der Kulturrelativisten in der culture & personality school verankert, Kulturen als abgeschlossenes Ganzes mit eigenen Auffassungen von "normalem" und "abnormalem" Verhalten. Daher hat jede Kultur seine eigenen psychischen Erkrankungen.

Die großen WHO-Studien 1973 über Schizophrenie und Depression wurden heftig diskutiert. Arthur Kleinman forderte eine new cross-cultural psychiatry - hier können Psychopathologien nur miteinander verglichen werden, wenn die lokalen Konzeptualisierungen über Krankheiten miteinbezogen werden. 

Der DSM-IV sollte als nordamerikanischer und europäischer Diagnosestandard "kultursensibler" gestaltet werden. Dazu gab es eine eigene Arbeitsgruppe, die "National Task Force on Culture and Psychiatric Diagnosis" von KulturanthropologInnen und PsychiaterInnen. Es gestaltete sich als schwierig, weg von Stigmatisierungen einen Weg zu finden. Letztlich wurde vieles nicht aufgenommen. So blieb der DSM ein Produkt der "westlichen" Welt. Das Glossary on CBS darin ist fraglich. Als Anhang wurde dann eine Anleitung für eine kultursensible Diagnostik (cultural formulation) aufgenommen. Dort wird verwiesen auf mehr Aufmerksamkeit auf das persönliche Erleben von PatientInnen und deren jeweiligen Kultur = Referenzgruppe zu richten. Komponenten dafür sind:

  • kulturelle Identität der PatientInnen

  • kulturelle Erklärungen für das Leiden des/der Einzelnen

  • kulturelle Elemente in bezug auf die psychosoziale Umgebung

  • kulturelle Elemente in Bezug auf das Verhältnis zwischen Individuum und Arzt/Ärztin

(vgl. Mezzich et al 1996)

Transkulturelle Psychiatrie oder kulturvergleichende Psychiatrie dokumentiert die Auswirkungen von Kultur auf die Muster, die Häufigkeit und das Umgehen mit psychiatrischen Störungen (nach Wittkower und Prinz 1974 e.Ü.).

Kulturgebundene Syndrome (CBS - Cultural Bound Syndroms) die seit Jahrhunderten beobachtet wurden aber nicht in das "westliche" Klassifikationsschema passten wurden in eine eigene Kategorie gefasst. Das Konzept der CBS stammt vom Psychiater Pow Meng Yap (1962) - vorerst atypical culture-bound psychogenic psychoses genannt. Dies waren aber kulturgebundene Variationen universell vorkommender Krankheiten.

Im Standardwerk von Simons & Hughes (1985) wird zwischen 193 CBS verglichen. Als Kritik auf den Ethnozentrismus wird in der neueren medical anthropology betont, dass alle Gesellschaften CBS hervorbringen. 3/4 der aufgelisteten Krankheiten sind einzigartig für westliche Länder.

In den letzten Jahrzehnten hat die transkulturelle Psychiatrie auch in Europa an Bedeutung gewonnen. Ausdruck dessen ist auch, dass es seit 2007 jährlich einen internationalen Kongress zum Thema transkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum gibt (siehe Link). In Wien gibt es die Arbeitsgruppe Medical Anthropology and Global Health an der Med Uni Wien (siehe Link) und die Wiener Herbsttagung für Transkulturelle Psychiatrie.

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